Orthopädischer Stuhl- Artikel aus der Zeit-Online

17. Mai 2011Aktuelles

Orthopädischer Stuhl- Artikel aus der Zeit-Online

17. Mai 2011 | Aktuelles

Nützt ein orthopädischer Bürostuhl dem Rücken? Macht er wenigstens Spaß? Der endgültige ZEIT-Test

Frau W. springt entsetzt in die Höhe. »Iiiih! Da bewegt sich was unter mir!« Schaudernd verfrachtet sie den Stuhl in die entfernteste Büroecke. Frau N. hält es immerhin zwei Stunden lang aus. Dann gibt sie auf. »Was ich ganz schlimm finde: Man wird vom Schreibtisch weggezogen. Ich habe das Gefühl, jemand steht hinter mir und zieht.« Herr W. dagegen, der sich passenderweise den Ischiasnerv eingeklemmt hat, ist hinterher voll des Lobes: »Der Stuhl hat mir geholfen. Die Rückenmuskulatur hat sich gelockert. Das hat gut getan.«

Sitzprobe in der ZEIT- Redaktion. Im Test: drei extravagante, laut Betriebsanleitung der Rückengesundheit dienende Bürostühle. Ein Hoppelstuhl. Ein sanfter Schaukler. Und ebendieser: ein Bürostuhl mit Motor. Optisch unauffällig, aber technisch hat er es in sich. Ein akkubetriebener Motor verdreht die Sitzfläche gegenüber der Lehne fünfmal in der Minute um 0,8 Grad nach rechts und links. Das Prinzip heißt »Mikromotiv«. Der so ausgerüstete Stuhl bewegt den Menschen durch Mikrorotation. Bei Bedarf den ganzen, langen Bürotag über.

Lässt man einmal die wenig hilfreiche evolutionsgeschichtliche Sichtweise außer Acht, nach der der Mensch aufgrund seiner Herkunft und seines Körperbaus eigentlich nur liegen, klettern oder äußerstenfalls laufen sollte, so war doch bis in die neunziger Jahre orthopädisch weitgehend Konsens, dass jedenfalls das Sitzen der Übel größtes sei. Jahrzehntelang wurde vor allem den Büromenschen das Stehen empfohlen, beim Lesen, Telefonieren, selbst beim Schreiben am PC. Stehpulte zogen in Büros und Arbeitszimmer ein. Und wo Stehen nicht durchzusetzen war, musste zumindest aufrecht gesessen werden, mit durchgedrücktem Kreuz und vorgekipptem Becken. Große Gummibälle wurden angeschafft, auf denen die Sitzenden mühsam das Gleichgewicht zu halten suchten. Hässliche Stühle, in die man die Beine Adern quetschend einklemmte und auf denen man nur sitzen konnte wie Buddha.

Seit einigen Jahren lautet das Credo der Orthopädie wieder anders. Nicht Sitzen an sich ist schlimm (und begründet den bekannten happigen Zweidrittel-Anteil der Rückenleiden an den Ausfalltagen in Deutschland), sondern starres Sitzen. Aufrecht sitzen ist gut, wenn es von lässigem Lümmeln abgelöst wird. Mal hängt man in der Lehne, mal überm Schreibtisch. Devise: Die beste Sitzhaltung ist die nächste. Die Bandscheiben werden nicht durch Adern versorgt, sondern durch osmotischen Flüssigkeitsaustausch. Sie werden bei tüchtigem Kneten gut ernährt und funktionieren besser als Dämpfelemente des federnden Rückgrats. Wird ein Rücken überhaupt nicht bewegt, versteift er.

Herr S. lässt sich auf den lehnenlosen Hocker plumpsen und wird fast wieder auf die Beine zurückkatapultiert. Dann hüpft er eine Weile auf dem Swopper herum und wird um ein Haar abgeworfen. Er lacht und findet den Stuhl nicht sehr seriös. Herrn R. stört das pausenlose Wippen, mit dem er eine labile Balance herzustellen versucht, er vermisst die Ruhestellung, die eine Rückenlehne bietet. »Zu sportlich. Sport mache ich abends.« Frau S. ist vor Schreck über den unzuverlässigen Sitzgrund gleich wieder abgesprungen. Frau W. benutzt ihn parallel zum alten Bürostuhl nur zeitweise, meist jedoch, um ihre Beine abzulegen. Aber Herr A. bescheinigt dem Swopper einen hohen Spaßfaktor und genießt es, sich selbst in eine sanfte Rotation um die Körperachse zu versetzen, sorgt sich indes um seinen Ruf im Büro angesichts einer solchen Bestuhlung. »Die Kollegen gucken amüsiert.«

Was in der Bandscheibe vorgeht, weiß niemand genau

Die aktuell gültige Lehrmeinung, dass »richtiges«, also dynamisches Sitzen am Arbeitsplatz zumindest nicht schädlicher ist als Stehen, hat immerhin einen Vorteil: Sie stützt sich auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse, was nicht ganz selbstverständlich ist. Die Sitzforschung hat nämlich ein zentrales Problem. Es ist nahezu unmöglich, die Vorgänge in der Wirbelsäule, speziell in den weichen Bandscheiben, am sich bewegenden Menschen zu erfassen. Vor Verzweiflung ließ sich ein Ulmer Kreuzschmerzforscher sogar schon mal einen Drucksensor in die eigene Bandscheibe implantieren. Die Berliner Biomechaniker Georg Bergmann und Antonius Rohlmann haben Ende der neunziger Jahre erst mit einem Trick die Druckverhältnisse im Kreuz messen können. Sie nutzten die Tatsache aus, dass Patienten mit einem Wirbelbruch häufig eine Fixiervorrichtung an die Wirbelsäule geschraubt wird. An dieser Schiene wurden Messeinrichtungen und ein Sender angebracht. Das damals überraschende Ergebnis: Der Druck in der Bandscheibe ist beim Sitzen und beim Stehen etwa gleich groß.

Seit einigen Wochen liegen nun erstmals die Ergebnisse der weltweit wohl größten und besten Sitzstudie vor. Den Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Traumatologie in Hessisch Lichtenau, Marcus Lengsfeld, hatte schon immer geärgert, dass nur Arzneimittel entsprechend gesetzlichen Regelungen von reichen Konzernen in klinischen Prüfphasen aufwändig getestet werden. »Rückengesunde« Bürostühle dagegen werden in Mengen auf den Markt geworfen, ohne dass es eine Methode zur Messung ihrer therapeutischen Wirksamkeit gäbe. In einer Langzeitstudie hat Lengsfeld jetzt eine Prüfmethode für Bürostühle entwickelt. Die Studie lief über zwei Jahre mit 280, allesamt kreuzkranken Teilnehmern. Sie war als Doppelblindstudie angelegt (weder die Teilnehmer noch das Testpersonal wussten, wer zur Versuchsgruppe gehörte und wer zur Kontrollgruppe). Unterstützt wurde Lengsfeld vom Lübecker Medizinstatistiker Andreas Ziegler. Finanzierer war der Mindener Büromöbelhersteller Drabert, der die Micromotiv-Stühle baut. Natürlich saßen die Testsitzer auf Draberts Rotationsstühlen.

Für die Seriosität der Studie spricht, dass die soeben publizierten Ergebnisse für den Hersteller überaus zwiespältig ausfallen. Eine Gruppe von Versuchspersonen saß auf normalen, motorisch bewegten Stühlen; die Kontrollgruppe saß auf baugleichen Exemplaren, unter denen ebenfalls ein Motor summte, ohne aber etwas zu bewegen. In der subjektiven Kategorie »Wellness« konnte der rotierende Stuhl zunächst punkten. »Bewegte« Probanden fanden den Stuhl bequemer, wollten ihn öfter behalten und gegebenenfalls eher etwas zuzahlen als »unbewegte«.

Ernüchternd dagegen die medizinisch-therapeutischen Ergebnisse. Zwischen den Testgruppen gab es nach zwei Jahren partout keinen Unterschied, was Krankheitstage und Rückenschmerzen angeht. Übrigens existiert für die (Rücken-)Schmerzmessung immer noch keine bessere als die Kreuzchenmethode: Auf einer Skala von null bis hundert kreuzt der Proband an, wie stark seine Schmerzen sind – der überraschend behelfsmäßig wirkende, doch in der Schmerzforschung verbreitete Versuch, subjektives Schmerzempfinden zu objektivieren.

Obwohl es in der Studie keineswegs nur um die Effektivität des getesteten Bürostuhls ging, war Lengsfeld doch enttäuscht. »Das wäre ein Knaller gewesen, wenn wir einen therapeutischen Effekt hätten zeigen können.« Dann hätte es den rotierenden Stuhl womöglich bald auf Krankenschein gegeben. Und so? Er vergleicht den Stuhl mit anderen Therapieformen in seinem Fach – Krankengymnastik, Reizstrom, Fangopackung. »Es gibt auch keine zuverlässige Studie, die zeigt, dass Fango besser ist als heiße Luft.« Alles Humbug also? »Keineswegs. Solche Behandlungen werden auf jeden Fall subjektiv als etwas Gutes wahrgenommen. Offenbar ist der Effekt unter knallharten Laborbedingungen nicht stark genug.«

Die Männer finden den Schaukler nobel, die Frauen zu protzig

Sitzprobe, dritter Teil: der sanfte Schaukler. »Interessant, nicht unsympathisch« findet Herr A. den Pending. Nach einem Tag am Schreibtisch fühle sich der Rücken gut an. Der Hersteller spricht von einem »biodynamischen« Stuhl. Sein Sitz ruht auf Federelementen – jede Verlagerung des Körpermittelpunktes beantwortet er mit einer leichten Schaukelbewegung, auf die der Schreibtischarbeiter mit einer Ausgleichsbewegung reagieren muss. Gut für die Rückenmuskulatur, gut für die Bandscheiben. »Der Stuhl allerdings«, meint A., »sieht so nobel aus, dass man darauf keinen kippelnden und federnden Kollegen erwartet.« Die Kolleginnen mögen ihn durch die Bank nicht: »zu protzig«. Herr S. dagegen hat irgendwie ein »aktives Gefühl. Man vergisst das Sitzen nicht.« Herr D. will den Stuhl behalten: »Was kostet der?«

Dass dynamisches Sitzen einen messbaren Einfluss auf die Bandscheiben hat, konnte Lengsfeld mit Kollegen in einer kleineren Studie auf überraschend einfache Weise zeigen: Er maß die Probanden vor und nach einer Stunde Sitzen auf einem mikrorotierenden Stuhl. Und siehe da: Der Mensch war um 0,5 Millimeter gewachsen! Die Bandscheiben hatten Flüssigkeit aufgenommen. Um solches Winzigwachstum überhaupt messen zu können, wurden die Testsitzer am Körper mit Referenzpunkten bemalt, in ein Ganzkörpergestell gespannt und dann vermessen. Solches Längenwachstum ist für den nicht ganz überraschend, der weiß, dass er nachts bei Rückenentlastung um durchschnittlich zwei Millimeter wächst. Kleiner wird man zum Beispiel beim Autofahren. Arbeitsmediziner kennen den Effekt: Autofahrer müssen nach langer Fahrt gelegentlich den Rückspiegel verstellen. Die Bandscheiben sind platt gesessen.

Wie der ZEIT- Test ausging? Der Swopper wurde von den meisten Testsitzern als zu witzig und zu anstrengend empfunden, eher ein Sport- und Spaßgerät. Beim Mikromotiv störte viele das Motorgeräusch, das etwa so laut wie ein PC ist, aber an- und abschwellend. Der Pending rangierte unter den Männern als Nummer eins. Die teilnehmenden Frauen waren allerdings innovativen Sitzerlebnissen gegenüber grundsätzlich weniger aufgeschlossen als die Männer. Immerhin fand sich für jeden Stuhl je ein Interessent.

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